(Zuerst erschienen im Versicherungsmonitor)
„Wir wollen die Finanzberatung vom Kopf auf die Füße stellen“, heißt es im kürzlich von den Grünen vorgelegten Bundestagswahlprogramm. Das bedeutet unter anderem ein Bürgerfonds anstelle der Riester-Rente, Honorar-statt Provisionsberatung, Bürgerversicherung und Bafin-Aufsicht für alle Vermittler. Doch brauchen wir wirklich eine Politik, die unsere Branche geraderückt?
Ein Meinungsbeitrag von Prof. Dr. Hartmut Nickel-Waninger, Honorarprofessor für Versicherungsbetriebswirtschaft an der J.W. Goethe Universität Frankfurt und Mitglied der Aufsichtsräte der Versicherungsgruppe die Bayerische gemeinsam mit Martin Gräfer, Mitglied der Vorstände der Versicherungsgruppe die Bayerische.
Die Positionen der Grünen als absurd oder dumm abzutun wäre zu einfach und unserer Meinung nach auch nicht klug. Sind die hier vertretenen Gedanken doch auch bei SPD und den Linken zu finden. Selbst innerhalb der CDU hegen nicht wenige ebenfalls zumindest teilweise Sympathien hierfür. Dennoch machen auch die jüngsten Äußerungen von Olaf Scholz zum Thema Provisionsdeckel deutlich, wie weit die Politik von diesen Themen weg ist und wie wenig der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) dem entgegenzusetzen hat.
Jeans statt Anzug macht die Branche nicht moderner
Bisher ist es unserer Branche, von einigen wenigen eher mutigen Unternehmen einmal abgesehen, leider nicht gelungen, vor die Welle der Veränderung zu kommen. Das aber wird zunehmend notwendig und vielleicht sogar existentiell für die Branche insgesamt. Das reine Verteidigen von Positionen und die Abwehr nicht genehmer Ideen wird für die zukünftige Gestaltung der Branche nicht reichen. Es ist nicht damit abgetan, mal eben in die Jeanshose statt den Anzug zu schlüpfen, die Krawatte wegzulassen, sich einen Drei-Tage-Bart wachsen zu lassen und dann zu glauben, dass wäre Modernisierung genug. Der Anspruch möglichst Schlimmeres zu verhindern und sich mit dem vermeintlich weniger Schlimmen zufrieden zu geben ist ungenügend!
Gerade erinnert der GDV an die Automobilindustrie kurz vor dem Dieselskandal: Er pocht auf die erbrachten Leistungen, verteidigt die Entwicklungen bis heute und versucht, die vom Markt insgesamt geforderten Veränderungen weg zu argumentieren. Sich einzuigeln macht keinen Sinn, wenn man Zukunft gestalten will. Übrigens auch dann nicht, wenn viele Argumente für die eigene Position sprechen. Das musste auch die Automobilindustrie mit Hinblick auf den Verbrennungsmotor schmerzlich erfahren – obwohl vieles heute und auch in Zukunft für ebendiesen spricht.
Es kommt leider nicht an. Auch unsere Branche muss empathischer werden und darauf achten, dass es nicht nur eine Partei ist, die sich kritisch mit unserem Wirtschaftszweig beschäftigt. Letztlich sind es immer die Kunden, die keine oder zumindest keine ausreichenden Assoziationen mit den Versicherungen in Deutschland haben. Wir müssen dringend aufwachen und umdenken bevor es zu spät ist. Was es braucht ist Mut und das sowohl bei der Kommunikationsstrategie als auch bei den Formaten, in denen kommuniziert wird – und dabei, Produkte und Lösungen neu zu denken.
Den Vertrieb neu denken durch verbindliche Standards
Neu zu denken gilt es insbesondere die Schnittstelle zu unseren Kunden, den Vertrieb. Viele Irritationen unserer Kunden basieren letztendlich auf der Komplexität und schweren Verständlichkeit unserer Produkte. Dies wird sich nicht so einfach ändern lassen. Deshalb ist Beratung gefordert. Und diese muss in ihrer Qualität in der Breite der Gesellschaft anerkannt sein! Warum einigen wir uns nicht – ohne staatliche Vorgaben – auf verbindliche Standards oder Normen in der Analyse der Kundensituation?
Kaum ein Berater oder Vermittler wird die komplexen Beratungsfelder allein umfassend bedienen können, vor allem da die gesetzlichen Vorschriften mit Superlativen wie „der Kunde ist stets ehrlich, redlich und professionell in seinem bestmöglichen Interesse zu behandeln“ belastet sind. Hier wären standardisierte Vorgaben in der Beratung sinnvoll und im Interesse der Kunden. Genau für derartige Schnittstellen steht eine Norm zur Verfügung. Mit der neuen Zahlungsdiensterichtlinie PSD2 unterstützt die Politik dies sogar in erstaunlicher Weise. Warum nehmen wir als Branche diesen Ball nicht viel aktiver auf? Die Eiopa bereitet das gerade auch für die Versicherungsbranche vor.
Künftig werden wir unsere Kunden zusätzlich zum Thema Nachhaltigkeit aufzuklären haben. Wollen wir abwarten bis uns diese Welle wieder überrollt? Freuen wir uns stattdessen darauf und gehen in Vorlage! Und hier gibt es ja auch bereits sehr zielführende Initiativen und mit der DIN 77 230 bereits eine sehr gute Norm genau dafür.
Wir brauchen mehr Liberalismus bei der Frage der Vergütung
Außerdem meinen wir, dass wir deutlich mehr Liberalismus bei der Frage der Vergütung für Vermittlung und Beratung benötigen: Alle die sich mit dem Vertrieb und der Beratung von Versicherungsprodukten beschäftigen, und das unabhängig vom Vermittlerstatus, sollten auf sämtliche Vergütungsformen zurückgreifen können. Natürlich immer und mit klarer Transparenz gemeinsam in Abstimmung mit den Kunden. Hier braucht es ebenfalls freiwillige Regelungen und Vorschläge, die ein Verband durchaus entwickeln und dann zur Nachahmung empfehlen kann. Am besten in Zusammenarbeit mit den Vermittlerverbänden wie BVK, AfW oder Votum.
Wir als Versicherer könnten uns dann verpflichten, nur mit den Vermittlern oder Beratungsorganisationen zusammenzuarbeiten, die sich diesen Standards verpflichtet fühlen. Eine gesetzliche Begrenzung von Provisionen – und das ohne die individuelle Situation in der Beratung wirklich zu berücksichtigen – ist Unfug und wohl auch verfassungsrechtlich kaum haltbar.
Aber auch hier kann man für den Impuls und die Motivation, derart in einen Markt einzugreifen, Verständnis haben. Es ist uns als Branche bisher nicht gelungen, glaubwürdig deutlich zu machen, dass die oft zitierten „Provisionsexzesse“ entweder ein Märchen oder ein Relikt vergangener Zeiten sind. Wäre nicht gerade eine solche Beratungsoffensive ein Weg, welche uns aus dem Keller herausführen könnte? Weiß nicht die Politik selbst, dass die Aufklärung und das „Schubsen“ in die richtige Richtung mit viel Aufwand verbunden ist? Vielleicht rechtfertigt sich hierdurch die Vergütung in der Versicherungswirtschaft auch in der Meinung der breiten Öffentlichkeit besser!
Der GDV-Vertriebskodex blieb wirkungslos
Das praktische Scheitern des – wirklich gut gemeinten – GDV-Vertriebskodex, den sich unsere Branche 2018 in einer Neuauflage auferlegt hat und mit dem wir die Interessen der Kunden konsequent in den Mittelpunkt rücken sowie die Qualität der Kundenberatung weiter verbessern wollten, ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn man versucht mit einer bereits laufenden Welle mit zu schwimmen.
Der GDV-Vertriebskodex verhallte wirkungslos und zeigte keinerlei Nutzen, weder für Anbieter noch für Berater und schon gar nicht für die Verbraucher – wenn man von der Selbstbeschäftigung des Verbandes damit einmal absieht. Er war der Versuch eine weitere Regulierungsinitiative unnötig zu machen, deren Welle bereits rollte und in der IDD ihre Umsetzung fand.
Wir sollten eine neue Initiative starten
Wir sollten unverzüglich beginnen festzuhalten, was wir unter einer zeitgemäßen Versicherungsberatung verstehen und diesem Ansatz dann mit aller Kraft zu seiner Umsetzung in der Breite verhelfen! Zu der Umsetzung in der Breite ist wiederum eine gezielte Aus- und Weiterbildung unabdingbare Grundvoraussetzung! Selbstverständlich sind dabei die Vorgaben des Gesetzgebers zu beachten und genau zu definieren, wie diese umzusetzen sind.
Hierin müssen Vorgaben wie „in dessen bestmöglichem Interesse“ klar ihren Ausdruck finden und erklären, was sie für den Vermittler bedeuten und wie diese Erwartungen im Beratungsgespräch umzusetzen sind! Und dies nicht nur beim Abschluss, sondern auch in der laufenden Betreuung! Dann erhält das Bild der ehrbaren Kaufleute – ein Bild, das in seinen Grundzügen mindestens so alt ist, wie unsere Branche selbst – ein zeitgemäßes Gesicht und neues Leben! Dann kann man auch seine Vergütungsansprüche in der Öffentlichkeit mit Selbstbewusstsein vertreten! In allen beratenden Berufen bezahlt man für deren Qualität. Warum sollte dies bei Versicherungen anders sein?
Im zweiten Teil des Meinungsbeitrags lesen Sie in Kürze, warum der politische Abgesang der privaten Altersversorgung falsch und warum die Aufklärung des Kunden über die Auswirkungen des Niedrigzinses so wichtig ist.
Titelbild: © Prof. Dr. Hartmut Nickel-Waninger, Martin Gräfer/die Bayerische
Herzlichen Dank an Martin Gräfer und Hartmut Nickel-Waninger für dieses wertvolle strategische #Plädoyer, wie sich die deutsche #Versicherungswirtschaft in den Augen von Kundinnen und Kunden, der Politik und den Regulatoren besser positionieren kann.
Ein erwägenswerter Erfolgsfaktor für die dringend erforderliche Verbesserung unserer #Reputation bei unseren Kunden sowie im öffentlichen Raum ist ein signifikanter
#Lösungsbeitrag der Versicherungswirtschaft bei politischen und gesellschaftlichen #Herausforderungen.
Konkrete #Ansatzpunkte bieten u. a. die Verbreitung betrieblicher #Altersvorsorgung bei Kleinstunternehmen und insbesondere der Gastronomie, #Versicherbarkeit von Risikoberufen wie Hebammen sowie ein sehr umfassendes und mutiges Konzept für #Nachhaltigkeit und gegen den Klimawandel.
Wenn uns das gelingt, haben wir eine sehr gute Chance, in der regulatorischen und gesellschaftlichen Wahrnehmung den anerkannten #Platz einzunehmen, den wir anstreben – und der uns dann auch zusteht.